Arbeitsgemeinschaft für Heimatgeschichte Feuchtwangen
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Erinnerungen von Zeitzeugen - Übersicht


Erinnerung an den 20. April 1945 in Feuchtwangen

Christoph Stöcker

Ein Jahr vorher, also am 20. April 1944, standen wir im Kindergarten - der war damals im alten Schützenhaus an der Mooswiese - zur Feier von Hitlers Geburtstag im Karree angetreten. Ich (geboren 1940) habe nur schwache Erinnerungen daran, aber meine Mutter hat uns des öfteren davon erzählt.

Vermutlich war in der Mitte des Raumes ein Führerbild und/oder eine Flagge postiert. Kurzum: Ein kleiner, dafür ausersehener Knirps hatte in die Mitte zu treten, die Hand zum Gruß zu heben, wir ebenso und - dann mussten wir Kinder alle fürchterlich lachen: Er hatte nämlich lauthals ausgerufen: "Wir gießen unseren Führer!"

Die Staatsmacht, die den Führer eher "gegrüßt" wissen wollte, soll der Familie des Buben wegen seines Versprechers Schwierigkeiten gemacht haben. Verbarg sich hinter dem kindlichen Versprecher nicht doch ein heimlich in der Familie erzählter Witz, der sich gegen das Regime und seinen Krieg richtete?

Und so begann das letzte Kriegsjahr für uns und für Feuchtwangen. Wir Kinder bemerkten davon anfangs nicht viel. Unser Vater war zwar in Stalingrad gefallen, unsere Mutter mit ihren zwei Kindern vor dem Bombenhagel aus Nürnberg zu den Großeltern nach Feuchtwangen geflüchtet, doch die Erwachsenen versuchten, die Kriegsnot von den Kindern fern zu halten.

Im Herbst kam irgendwann Onkel Karl auf Heimaturlaub zu uns, ein Mann, der vom ersten Kriegstag an alle Frontkämpfe von Norwegen bis Russland mitgemacht hatte und der dann in den letzten Kriegstagen auf dem Rückzug in Jugoslawien fiel. Er imponierte mir damals, weil er ohne Furcht vor dem Besitzer Fragner mit einem Prügel Kastanien von den Bäumen des Sonnenwirtskellers herabwarf. Nun, erhatte andere Gefahren bis dahin überstanden...

Dann kam das Jahr 1945. Kurz vor oder an Ostern gingen wir abends mit den Erwachsenen auf die Wiese rechts neben dem Sonnenwirtskeller. Die Erwachsenen waren recht aufgeregt und sprachen von Christbäumen, was mich verwunderte: Ostern und Christbäume? Sie meinten aber die Signallichter, mit denen die Bombardierung von Crailsheim eingeleitet worden war. Crailsheim, in der Luftlinie nicht allzu weit von Feuchtwangen entfernt, wurde damals weitgehend zersört, Feuchtwangen dagegen verschont.

Etwa um diese Zeit wurden die Militärbaracken auf der Peunt unterhalb unseres Grundstücks (heute Grundschule) geräumt. Vorher hatte man noch Luftballons zur Wettervorhersage steigen lassen. Dann kam sehr plötzlich der Abzug: Die Baracken wurden auf die Schnelle abgebaut und das übriggebliebene Material für die Wetteraufklärung in Gruben verbrannt. Ich erinnere mich, dass aus dem Brand grünlich-bläuliche Flammen hervorkamen - vermutlich waren also chemische Substanzen in diesen Resten enthalten.

Wenig später kam dann der 20. April 1945, also Hitlers letzter Geburtstag. Der "Führer", den wir noch ein Jahr vorher gefeiert hatten, saß noch in Berlin in seinem hochgesicherten Bunker; wir hatten uns in die nur halb in der Erde steckende "Waschküche" geflüchtet. Der Großvater eilte noch an die Gartentür, um die - wie er glaubte - letzten deutschen Soldaten bei ihrem Rückzug zu grüßen. Es waren allerdings die ersten amerikanischen Soldaten, die Feuchtwangen umgangen und von Osten her eingedrungen waren. Davon konnten ihn meine Mutter und meine Tante dann doch noch rechtzeitig überzeugen.

Und dann saßen wir in der Waschküche und ein "schwarzer" Soldat bewachte uns mit seinem Maschinengewehr, während seine Kameraden unser Häuschen nach möglichen Werwölfen durchsuchten, und die Großmutter rief ein und das andere Mal aus: "Ach, der arme Mann, ach der arme Mann!" Meine Mutter und meine Tante fragten sie mit einiger Empörung: "Oma, wir haben den Krieg und unsere Männer verloren - warum soll der ein armer Mann sein?"

Und die Großmutter, die vorher vermutlich nie einen Schwarzen aus der Nähe gesehen hatte, antwortete ergreifend kurz: "Warum armer Mann? Weil er so schwarz ist."

Und dann besetzte die "Military Police" unser Häuschen - es lag, damals noch als Einöde deklariert, über 100 Meter von der Stadtmauer entfernt, war also aus amerikanischen Sicherheitsbedenken gesehen relativ unbedenklich! Wir bekamen strikte Order, in kürzester Zeit auszuziehen, wohin auch immer. Zum Glück nahmen uns Bekannte auf und für uns Kinder begann eine schöne Zeit. Die Beengung der Lebensverhältnisse empfanden wir nicht, wir lebten ja nun mit unseren Spielgefährtinnen unter einem Dach.

Der Großvater versorgte zu genau vorgeschriebenen Zeiten seinen Garten, seine Hühner, Ziegen und sein Schwein, - die Militärpolizei hatte ihn wohl sehr schnell als ungefährlichen Ruheständler und Selbstversorger erkannt und legte ihm bei seiner friedlichen Tätigkeit nichts in den Weg.

Und eines Morgens waren sie wieder weg. Ein Befehl hatte sie überraschend an einen anderen Einsatzort geholt. Als wir wieder in unser "Häusle" einziehen konnten, stand auf dem Tisch noch ihr Frühstück mit Butter, Honig und anderen ungewohnten Köstlichkeiten. Das war ein ungewohnter Genuss!

Aber sie kamen noch einmal wieder, weil sie Großvaters Englischkenntnisse brauchten. Ein Jeep preschte bei uns vor, Großvater plus Englischlexikon wurden eingeladen und weggefahren - die Nachbarn waren aufgeregt: "Jetzt haben sie den alten Herrn abgeholt!" Die Angst war nicht gerechtfertigt. Nach kurzer Zeit und nachdem wohl der Übersetzungsauftrag zur Zufriedenheit der "Entführer" erledigt worden war, fuhr Großvater wieder hocherhobenen Hauptes und mit seinem Englischlexikon im Jeep der Sieger zurück in sein "Häusle". Das Lexikon bewahre ich immer noch peitätvoll auf.

Soweit meine Erinnerungen, die im Wesentlichen auf Erzählungen meiner Mutter beruhen - an Einzelheiten, die sich mir mit meinen viereinhalb Jahren eingeprägt haben, glaube ich mich aber durchaus selbst, wenn auch schwach, erinnern zu können.


Letzte Änderung am 29. Mai 2005  durch Hans Ebert